Folgender Beitrag in der Berliner Zeitung vom 20.08.2024 hat mich sehr nachdenklich gemacht:

1943 tobte am Kursker Bogen die größte Schlacht des Zweiten Weltkriegs. Millionen Ostdeutsche kennen den Schauplatz aus dem Filmepos „Befreiung“ – auch den deutschen Marder.

Die Schlacht am Kursker Bogen – ein Begriff, der einer Generation Ostdeutscher tief ins Gedächtnis eingegraben ist: die größte Schlacht des Zweiten Weltkriegs, die größte in der Geschichte der Landschlachten überhaupt. Tief erschüttert sah ich als 14-Jährige den Monumentalfilm „Der Feuerbogen“. So lautet der Titel zum Auftakt des fünfteiligen kinematografischen Epos „Befreiung“, dem die Episoden „Durchbruch“, „Hauptstoßrichtung“, „Schlacht um Berlin“ und „Der letzte Sturm“ folgen. Das insgesamt siebenstündige Großwerk entstand in der Kooperation Sowjetunion, Polen, DDR und Italien.

Wir gingen als Schulklasse ins Bitterfelder Kino, beim Verlassen sprach niemand ein Wort. In der DDR haben vier Millionen Menschen (von 17 Millionen Einwohnern) allein die ersten beiden Folgen der hochdramatischen, von der extremen Gewalt der Schlachten durchzogenen Filmserie gesehen. In der Sowjetunion sollen es 56 Millionen gewesen sein. Die vielen, vielen Toten, die Gewalt des Krieges in maximaler Dimension – das vergisst niemand. Auch nicht die Sowjetsoldaten, die die Truppen Nazideutschlands zurückschlugen.

Es waren deutsche Männer, die Väter und Onkel meiner Generation, die Tausende Kilometer östlich von Deutschland die Panzer lenkten, Granaten abfeuerten, ungeheuerliche Verbrechen gegen die Bevölkerung der eroberten ukrainischen, belarussischen, russischen Landstriche begangen hatten. Das wusste ich schon zuvor. Bei ohrenbetäubendem Schlachtenlärm und angesichts des menschlichen Leids bewirkte der Film mehr als nur die Erweiterung von Wissen.

Fortan fielen mir die vielen Männer mit Holzbein, Lederarm und Glasauge in der Nachbarschaft erst richtig auf. Zieht man die propagandistischen Effekte der hochpolitischen Inszenierung ab – es bleibt das Entsetzen, und der Name Kursk löst zuverlässig Schaudern angesichts deutscher Geschichte aus.

Die „Operation Zitadelle“ und drei Millionen Gefallene
Was wissen Westdeutsche von der Schlacht am Kursker Bogen und den Geschehnissen an der Ostfront, außer das, was Opa aus den sowjetischen Kriegsgefangenenlagern an Geschichten vom eigenen Leiden mitbrachte, und dass es Bundeskanzler Konrad Adenauer 1955 bei Verhandlungen in Moskau gelang, die letzten Kriegsgefangenen nach Hause zu holen?

Insgesamt kehrten ungefähr zwei Millionen von 3,3 Millionen deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion zurück; 1,3 Millionen gelten als vermisst oder verschollen. Von den etwa 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen starben mehr als drei Millionen – planmäßig, so hatte es die deutsche Führung vorgesehen.

Manchen fällt vielleicht ein: Es war die letzte Offensive der Wehrmacht. Die Schlacht um Kursk (5. bis 16. Juli 1943) begann sechs Monate nach der bei Stalingrad, dem Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs, 800 Kilometer nordöstlich als „Operation Zitadelle“. Tatsächlich sollte es der letzte Versuch der deutschen Invasoren sein, das Blatt zu wenden. Mit einer Zangenbewegung von Norden (Orjol) und Süden (Belgorod) gedachten die deutschen Kriegsherren die sowjetischen Truppen zwischen Dnepr und Kursk einzukesseln und zu vernichten. 900.000 Wehrmachtsoldaten mit 3500 Panzern scheiterten am zähen Widerstand der dort liegenden 2,6 Millionen Rotarmisten mit 8000 Panzern.

Am Ende der nachfolgenden sowjetischen Gegenoffensiven waren Belgorod (5. August), Charkow (23. August) und Kiew (6. November) von deutschen Truppen befreit. 1,2 Millionen Rotarmisten und 200.000 deutsche Soldaten blieben auf den Schlachtfeldern am Kursker Bogen tot zurück. Wenige Wochen später erzwangen die sowjetischen Verteidiger den Übergang über den Dnepr in einer ähnlich gewaltigen Schlacht. Damit war auch der Traum der Anhänger des ukrainischen Faschisten Stepan Bandera, unter Nazi-Herrschaft einen ukrainisch-faschistischen Nationalstaat gründen zu können, endgültig zerschlagen.

In der alten BRD beherrschten die Taten der Westalliierten die Geschichtserzählung. Wen wundert also die unterschiedliche Betrachtung der gegenwärtigen Entwicklungen im Ukrainekrieg in Ost und West? Welchem Westdeutschen fährt der Blitz in die Glieder, wenn er von Schlachten in der Region Kursk hört?

Der Historiker Roman Töppel, der 2017 das Standardwerk „Kursk 1943: die größte Schlacht des Zweiten Weltkriegs“ vorgelegt hat, erinnerte kürzlich daran, dass 350 Wehrmachtspanzer der Marke Marder an den Vernichtungsschlachten gegen die Rote Armee beteiligt waren. Wem fährt der Blitz in die Glieder, wenn Meldungen eintreffen, Marder aus deutscher Lieferung stünden wieder vor Kursk, weil sie bei der ukrainischen Operation in dem Gebiet eingesetzt würden?

Der Panzer Marder rollte damals wie heute
1943 waren sie übrigens sehr effektiv, wie Töppel erinnert: Die Marder der Panzerjäger-Abteilung der Leibstandarte SS Adolf Hitler hätten bei der Ortschaft Pochowka am 12. Juli große Teile der 25. Sowjetischen Panzerbrigade völlig aufgerieben. Wieso heißen die Schützenpanzer der Bundeswehr, lange Zeit Spitzenprodukt aus dem Hause Rheinmetall (und Maschinenbau Kiel, MaK), eigentlich wieder beziehungsweise immer noch Marder, wie dazumal der Panzerjäger der Wehrmacht?

In Ostdeutschland hat man inzwischen den Wissensrückstand hinsichtlich der Westfront einigermaßen aufgeholt. Im Westen bleibt das Zucken aus, wenn die Namen von Orten wie Kursk, Donez oder Winniza fallen.

70 Jahre mussten nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion vergehen, ehe Frank Walter Steinmeier als erster deutscher Bundespräsident die zwölf Millionen Sowjetsoldaten, die im Verteidigungskrieg gegen Deutschland ihr Leben ließen, ehrte und sich auf dem Sowjetischen Friedhof in der Schönholzer Heide in Berlin über den Gräbern verneigte. Mehr als 50 Jahre hatte es gedauert, bis der 27. Januar zum Holocaust-Gedenktag gemacht wurde, der Tag, an dem 1945 sowjetische Soldaten das deutsche Vernichtungslager Auschwitz befreit hatten.

Sowjetische Opfer ausgespart
Noch 1985 hatte das Bonner Auswärtige Amt an deutsche Auslandsvertretungen verschlüsselt einen sogenannten Drahterlaß „40. Jahrestag des Kriegsendes“ verschickt, mit dem Titel „40 Jahre Frieden und Freiheit“, in dem die Diplomaten aufgefordert wurden, viel von Demokratie und Zukunft zu sprechen, den Blick nach vorne zu richten; die Erinnerung an jene 20 Millionen sowjetischer Soldaten aus, die im Zweiten Weltkrieg ihr Leben ließen, wurde wohlweislich und vielsagend ausgespart.

Als Richard von Weizsäcker in seiner Rede als Bundespräsident am 8. Mai 1985 im Bundestag vom „Tag der Befreiung“ sprach, hagelte es neben viel Zustimmung auch energische Proteste. Noch 1995 veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung den Appell „8. Mai 1945 - gegen das Vergessen“, dem sich 200 Prominente anschlossen. Die Unterzeichner wandten sich gegen ein Geschichtsbild, das auf „Befreiung“ fixiert sei. Das könne nicht "Grundlage für das Selbstverständnis einer bewussten Nation" sein. Das war fünf Jahre nach der Wiedervereinigung!

Tätergeneration und Nachfolger
In den Jahren vor 1985 hatten die Auschwitzprozesse zwar rechtlich die Hauptverbrecher zur Verantwortung gezogen, aber einem Großteil der Gesellschaft, der Tätergeneration, auch das Gefühl vermittelt, damit sei man einigermaßen raus - ein Gefühl, das die 68er immerhin massiv störten. Allen Ernstes spielte aber die von Rechtsrevisionisten in die Welt gesetzte Auschwitzlüge in Debatten eine Rolle - die Frage, wer das Vernichtungslager befreit hatte, war angesichts dessen Nebensache.

Geschichte schrieb der SPD-Kanzler Willy Brandt, als er 1970 vor den Ofpern des Warschauern Gettos auf die Knie ging, aber der Sowjetunion danken?

Fazit

Der Grund für das erneute Hochquellen der Erinnerung an die scheußlichsten Teile der deutschen Geschichte liegt im russischen Überfall auf die Ukraine, befohlen von Russlands Präsident Wladimir Putin in der erklärten Absicht, Russlands einstige Größe wiederherzustellen – also Russland plus Ukraine, plus Baltikum, plus, plus. Dann hieße er in den Geschichtsbüchern Wladimir, der Eroberer. Oder „der Große“.

Deutschland unterstützt vollkommen zu Recht den Kampf der Ukraine zur Verteidigung ihrer Existenz, und romantische Russlandvorstellungen sollten sich erledigt haben. Das ändert nichts, aber auch gar nichts an der Geschichte. Im Gegenteil. 85 Jahre nachdem Deutschland den Zweiten Weltkrieg am 1. September 1939 angezettelt hatte und 83 Jahre nach dem Beginn des Eroberungs-, Raub- und Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion konfrontiert der jetzige Krieg die Deutschen so deutlich wie schon lange nicht mit ihrer eigenen Geschichte.

„Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“, gab Alexander Gauland 2018 Funktionären der Jungen Alternative auf den Weg. Zudem erklärte er, auch „wir haben das Recht, stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“. Gauland war damals Partei- und Fraktionsvorsitzender der AfD.

Seine Nachfolger sympathisieren mit dem Kriegstreiber Wladimir Putin. Sie finden im Osten viele Wähler – womöglich aufgrund der Hoffnung, die Verbrechen der eigenen Heimat auf diese Weise irgendwie ins Vergessen zu versenken. Allein – das ist aussichtslos.

Stand: 2024-08-21

Stand der Webseite: 2024-11-05

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